Interview 2010

St. Petersburg, Oktober 2010
Katja, Rasim, Denis, Oleg, Julia, Oliver, Marina + Michael.




Was bedeutet „Bereg - Das Ufer“ für die Straßenkinder in St. Petersburg?

Bei meiner Arbeit für die Straßenkinder in St. Petersburg werde ich – und das mit gutem Recht – immer wieder gefragt, „Was bewirkt diese Arbeit für das Heim und die Straßenkinder eigentlich“? „Was passiert letztlich mit meiner Spende und ist es sinnvoll, dort soviel Geld zu investieren“?
Das war für mich ein Grund, mal ehemalige „Heim-Kinder“ zu Wort kommen zu lassen - und nicht wie sonst nach meinem Aufenthalt in St. Petersburg einen „Reisebericht“ zu schreiben.
Ihre Aussagen und Erfahrungen in und mit „Bereg - Das Ufer“ können sicher eine Antwort geben. Sie werden Ihnen zudem einen Einblick in das Leben im Heim und in unsere Arbeit ermöglichen.

Wie seid ihr hierher nach „Bereg“ gekommen?
Katja und Rasim:
Uns hat die „Mannschaft“ (Mitarbeiter) aus der ehemaligen „Blauen Krähe“ abgeholt. Bei einem Zeltlager der „Blauen Krähe“ wurden wir einfach sitzen gelassen, weil diese während der Freizeit schließen musste. Marina und „ihre Mannschaft“, die bei der „Blauen Krähe“ arbeiteten holten uns schließlich im Zeltlager ab. Die Schließung der „Blauen Krähe“ war im Juni 1994.
(Anm. von M. Sch.: Die „Blaue Krähe“ war ebenfalls ein nicht-staatliches Haus für Straßenkinder, das aber wegen der unhaltbaren Zustände vom Staat geschlossen wurde. Daher beschlossen Marina und ihre Mitstreiterinnen ein neues Heim für die „übriggebliebenen“ Kinder aus der „Blauen Krähe“ zu gründen, woraus dann „Bereg - Das Ufer“ entstand.)
Was ist hier in „Bereg“ der Unterschied zur „Blauen Krähe?
Rasim:
Ein wesentlicher Unterschied ist, dass die „Blaue Krähe“ viel Geld zur Verfügung hatte. Es gab keine Wertschätzung. Zum Beispiel bestellte man sich massenhaft Pizza, die lediglich zu einer Essensschlacht dienten. Es gab dort auch keine Kontrolle. Man hatte zwar ein Dach über dem Kopf, aber die auf dem Papier vorhandenen sozialen Leistungen gab es nicht. Wir mussten nicht in die Schule gehen und außer dem Arzt gab es nur wenige qualifizierte Mitarbeiter.
In „Bereg“ dagegen gab es von Anfang an Kontrolle, Schule, Wertschätzung, Rechte und Pflichten.

Denis, wie bist du nach „Bereg“ gekommen?
Mich hat eine Sozialarbeiterin hier ins Heim gebracht. Ich war in einem Club in der Nähe von meinem Zuhause. Die Mitarbeiter haben uns kontrolliert und erfahren, dass ich selten in die Schule ging. Sie haben mir „Bereg“ als Alternative angeboten. Dort hatte ich die Wahl: Entweder bleiben und in die Schule gehen oder wieder gehen wenn mir das zuviel ist.

Warum bist du geblieben?
Weil die Umgebung mir sehr gefallen hat, die anderen Kinder waren nett. Vom ersten Tag an hatte ich das Gefühl hier daheim und nicht fremd zu sein.
Oleg, wie kamst du hierher?
Ich war in dem staatlichen Rehabilitationszentrum „Vera“. Normalerweise bleibt man dort drei Monate. Ich war ein Jahr dort und hatte dann die Wahl, ob ich in ein privates oder staatliches Kinderheim gehe. Mein Freund Kyrill hat mir „Bereg“ empfohlen. Also ging ich dorthin.
Der Hauptgrund weshalb ich blieb war, dass die Mitarbeiter von „Bereg“ mit uns wie mit Erwachsenen redeten und uns schätzten und uns für mündig hielten.
Ist „Bereg“ vielleicht nur das „geringere Übel“ oder entscheiden die Kinder sich bewusst?“
Marina:
Ich denke, Kinder, die auf der Straße so viele schlechte Erfahrungen gemacht haben, entscheiden ganz bewusst und denken dabei weit voraus in die Zukunft. In „Bereg“ ist der Schulabschluss so gut wie sicher. Die meisten entscheiden sich intuitiv richtig.

Denis:
Es ist ja auch nicht so, dass man kommt und z.B. direkt mit dem Rauchen aufhört. Das ist eine Entwicklung und je länger man da bleibt, desto sicherer ist man, dass dies das Richtige ist. Ich denke, dass wir damals im Kopf aufgrund unserer Erfahrungen älter waren als andere.

Heute unterstützt ihr Bereg. Warum?
Denis:
Wenn „Bereg“ nicht wäre, wären wir alle untergegangen. Die, die wieder früh gingen oder erst gar nicht kamen, sitzen im Gefängnis, gingen nicht in die Schule. Die Mädchen sind oft Prostituierte und viele (Jungen wie Mädchen) drogensüchtig. Wo hingegen diejenigen, die hier geblieben sind, Familien haben und studieren. Rasim konnte sich sogar ein neues Auto kaufen (alle lachen).
Was wäre, wenn ihr nicht hier gewesen wärt?
Katja:
Wahrscheinlich würde ich auf dem Land in einem verfallenen Haus leben. Ich wäre sicher eine Alkoholikerin und hätte keine ordentliche Familie – also keinen Mann und kein Kind.
Oleg:
Wir haben schon sehr früh viel getrunken - und die Folgen kennt jeder.

Denis:
Wir wären früher oder später alle untergegangen.

Wer hatte die Möglichkeit woanders unterzukommen?
Denis:
Formell hatte jeder eine „Familie“. Doch zu Hause ist da, wo man auf einen wartet. Das ist hier in „Bereg“ der Fall.

Wenn es „Bereg“ nicht mehr gäbe, was würde das für euch bedeuten? Würde euch etwas fehlen?
Es wäre wie eine sehr schlimme Verletzung! Auch heute noch ist „Bereg“ unser zu Hause. Wir würden unsere Basis verlieren, das ist, wie wenn die Eltern sterben.
Wäre ein staatliches Kinderheim eine Alternative?
Oleg:
Mein Bruder ist in einem staatlichen Kinderheim. Auch dort gibt es Schulpflicht, aber die Mitarbeiter kümmern sich wenig um die Kinder. Dort wird man mit 18 ohne Perspektiven rausgeworfen. Mein Bruder kann jetzt noch kaum schreiben.

Denis:
Meine Schwester war auch in einem staatlichen Kinderheim. Sie studiert jetzt. Allerdings sind wir verschiedene Menschen. Sie wurde zum Egoismus erzogen. In „Bereg“ lernen wir dagegen sozial zu denken, zu handeln und uns auch so zu verhalten.

Welche Voraussetzungen gab es - waren notwenig - für die Verwirklichung von „Bereg“?
Von Anfang an war es wichtig, dass alle Mitarbeiter Marinas Vision folgten und sich auch an die Regeln halten. Zum Beispiel darf kein Angestellter rauchen.

Wenn ihr an eure „Bereg“-Zeit zurückdenkt, war diese Zeit positiv oder negativ?
Alle mochten die Zeit hier in „Bereg“. Rasim denkt jetzt noch genauer darüber nach.

Was wäre, wenn es aus Deutschland keine Unterstützung gäbe?
Es würde an der Basis mangeln - sie würde total verloren gehen und „Bereg“. müsste schließen.

Könnt ihr euch vorstellen etwas für „Bereg“ zu tun und eure Erfahrungen auch an andere weiterzugeben?
Jeder von uns denkt oft darüber nach. Denis zum Beispiel hat von seinem ersten verdienten Geld einen Ausflug mit den Kindern gemacht. Leider braucht man sehr viel Geld um „Bereg“ sinnvoll unterstützen zu können...

Was sind Marina und ich (Michael) für euch?
Mama und Papa. Nur ist Papa viel zu selten da.
Michael:
Daher gefällt es mir so gut hier, weil ich ein Teil von euch bin und wir zusammen gehören.
Und jetzt arbeitet ihr alle?
Ja, wir sind alle am Studieren bzw. schon fertig. (2x Sport; 1x Logistik; 2x Sozialpädagogik)

Schlusswort von Oleg:
Alles was wir sind verdanken wir zu 100% „Bereg“. Danke!

St. Petersburg, Oktober 2010
Katja, Rasim, Denis, Oleg, Julia, Oliver, Marina + Michael.

Straßenkinder - St. Petersburg
levo – Bank - Lebach weitere Informationen:
Kto. 50540200 - BLZ 59393000 www.schaefer-lebach.de